I
vom suchen in nichts
am fenster oder nachts
mit fingerhut oder nichts
ungesehen
mit einer tasse schnee
in nacht und nichts
ein schwarm von angst
denk ich ihren mund
überlebensrot
ist weiß
nur weiß
II
rzeszów / karpatenvorland
reichshof
in wintern
vermutlich stickrahmen
vermutlich rote öfen
lederhandschuhe kalte
wölfe vor der stadt
im september
vermutlich landkaffee
herbstsonne und klavier
als die plage kam
in trompeten
über alles land
über alles
gwiazda dawida
gelb und grau
knopfloch besenstroh
gebesene wunden
wollwerk zu weben
g“tt mitzunehmen im
letzten webenswerk
oder den bruder
taucht tief
tauscht nähwaren
und schnee denn
im fadenkreuz der schwarzen
schneider ist das garn blasser töne
vornehmlich zartes vom blau
das fade aber erdige
das vom staub
zertretener bilder
III
vogel
und so setzt sich
viele jahre später
ein schwarzer vogel
auf meine hand
mit federn aus
geschnitztem holz in
spitzhausigen mustern
der karpaten
sieht mir nach
dass ich nie fragte
schaut durch mich
ohne lied denn
kein ort der welt
weiß wo sie ist,
meine flügel aus
hölzernen federn.
IV
neuss / rheinland
neuß
nach langer reise
schaut die figur in gobelin
margarete k.
die sie aufhängt als
tizian
in ihr schattenzimmer
die stille pracht
tizian
erhält bezeichnung im rahmen
verschwiegener bedeutung
tizian
heißt es in blauschrift
hinter der landschaft
oder woiwodschaft
oder venezien rückseitig
auf polnischer pappe:
mädchen mit fruchtschale.
tizian
tana telze tirze treibel*
findet sich an der wand
alsdann über
der heiligen barbara
schutzheilige aller menschen
unter tage
viele jahre schaut
meydl mit frukht shisl
in den schattengarten
auf blaue hortensien
eine teppichstange
dünnen rasen und
hört bei geöffneter tür
das klappern von geschirr
und schlager aus radios
anliegender mietshäuser
sie wird zeugin von
erbstreit zwischen schwestern
und größeren anschaffungen
wie chippendale und rosenthal
der garten bleibt ungeliebt
aber bis zum schluss gepflegt
selten schneit es
*erlaubte jüdische weibliche vornamen
mit T nach runderlass von 1938.
1978 fand die enkelin das bild hässlich,
der sachverständige den mund zu rot,
und adolf k. verstarb.
V
spazuren mit adolf k.
wenn wir durch den park spazuren
auf vielen wegen um den see
schafften deine worte frühling
zwei einzelkämpfer gelber blüten
wir schlugen alles böse in die flucht
entdeckten unbeschriebene blätter
wenn wir durch den park spazuren
deine worte schufen farben wie
alabaster hügel braunes zimt
dein erzählen großer mann
rauchender flaneur
taute dein verstummtsein
all die schweigeschlitten nach
kuvenreichen wintern in ostpolen:
tauzeit deiner selbst
deine worte meine bilder
zwei einzelkämpfer gelber blüten
flaniert im rücken deine schuld.
zum historischen hintergrund der texte:
mein großvater war mit oma und meiner mutter während des zweiten weltkriegs als beamter nach polen versetzt worden. sie lebten in über drei jahre in drei verschiedenen polnischen städten.
wie an vielen orten gab es nach dem überfall der deutschen auch in rzeszów/reichshof ein jüdisches ghetto. dort war es zunächst in grenzen erlaubt für deutsche zu arbeiten – zum beispiel als schneider oder schuster.
wenn sie sich etwas nähen oder reparieren ließ, brachte meine großmutter mitunter etwas zucker o.ä. als verbotene ware ins ghetto.
bei einer dieser gelegenheiten übergab ihr ein jüdischer herr das stickbild seiner schwester. den bewohnern des ghettos standen deportationen bevor, und er wollte so wenigstens das bild retten.
es ist die reproduktion des tiziangemäldes, mädchen mit fruchtschale.
mir war bis zum tod der großmutter die geschichte um die herkunft des bildes nicht bewusst. es hing, in schwerem, goldenen holz gerahmt, in einem ruhigen zimmer mit blick auf den kleinen hortensiengarten. der rahmen war das schweigen, ich habe ihn entfernt.
seit vielen jahren lebt das bild nun mit mir. sie schaut mich an. ich möchte, dass sie später in gute hände kommt, vielleicht frage ich nach bei der jüdischen gemeinde neuss oder düsseldorf.